Mittwoch, 25. Mai 2011

Helmholtz: Präzision durch Fehleranalyse und Berechnung des Unbekannten (Part 2)

Beispiel einer logistischen Funktion an Messdaten. Quelle: Wikipedia



Die zweite Klasse von Fehlerquellen, die das Experiment stören könnten, umfasst Faktoren, die verhindern, dass die Trennung der Unterbrechungsstelle im genau erforderten Moment geschieht. In diesem Moment, so beschreibt es Helmholtz, muss die Muskelspannung der Schwere der Belastung und Überbelastung gleich sein, d.h. wenn der mit einem Gewicht belastete Muskel gereizt wird, kann er dieses Gewicht erst heben, wenn er die ausreichende Spannung erlangt hat.

„Wenn jetzt der Muskel gereizt wird, ist es klar, dass er das Gewicht erst dann heben kann, wenn seine elastische Spannung gleich der Summe der Belastung und Überbelastung geworden ist. Es wird also jetzt der zeitmessende Strom, welcher […] durch das stromführende Zwischenstück und die amalgamierte Kupferspitze in das Quecksilber […] übergeht, erst in dem Augenblicke unterbrochen werden, wo die elastische Spannung des Muskels sich um eine, durch die Schwere der Überbelastung genau zu messende Größe vermehrt haben.“ [Helmholtz 1850 – Messungen über den zeitlichen Verlauf, S. 289]

Um dieses genaue Timing einhalten zu können, muss sichergestellt sein, dass alle beteiligten Komponenten in der ausgerichteten Position verharren und keine widerstrebenden Bewegungen machen. Genau dabei macht ihm der Froschmuskel einen gehörigen Strich durch die Rechnung: er verharrt eben nicht in der Position, in die er mit Hilfe eines Gewichts gebracht wurde, sondern zieht sich in seiner elastischen Eigenschaft noch einige Zeit weiter in die Länge. Genau dasselbe passiert, wenn die Muskelspannung nachlässt, dann zieht sich der Muskel auch erst allmählich wieder zusammen und ist nicht auf einen Schlag in seiner entspannten Position. Mit diesem Verhalten stört der Muskel den zeitlichen Ablauf, weil es passieren kann, dass er zu spät auf den Reiz reagiert. Schon Eduard Weber hatte diesen sehr nachhaltigen Effekt der elastischen Nachwirkung in den Muskeln beobachtet. Helmholtz hilft sich, indem er den Muskel vor dem Versuch mit einer viel größeren Belastung dehnt, als er sie nachher gebrauchen will. Außerdem muss er beachten, genügend Zeit zwischen zwei Versuche zu lassen, ca. 30-40 Sekunden, da der Muskel sich so lange noch in Spannung befinden kann.

Doch die Fehleranalyse bringt Helmholtz keine exakteren Messwerte, sondern nur Erkenntnis über die mangelnde Verlässlichkeit der Daten, die durch störende Einflüsse ein verzerrtes Bild abgeben. Um exaktere Werte zu bekommen, wendet Helmholtz deshalb die Methode der kleinsten Quadrate an – eine Methode der Ausgleichsrechnung. Dabei wird zu den gewonnenen Messwerten eine Verlaufskurve ermittelt, die möglichst nah an den Datenpunkten verläuft. Dass Helmholtz sich hier einer mathematischen Methode bedient, die in den 1850er Jahren hauptsächlich in den exakten Wissenschaften, also der Astronomie, Physik und Chemie Anwendung fand, spricht, wie ich finde, auch für sein Selbstverständnis als „Organischer Physiker“ - so bezeichnete sich die Gruppe um Helmholtz, du Bois-Reymond, Carl Ludwig und Ernst Wilhelm von Brücke, inoffiziell. Sie berücksichtigten bei physiologischen Fragestellungen immer auch physikalische Gesetzmäßigkeiten und Techniken der exakten Wissenschaften. Während die Methode der kleinsten Quadrate also in diesen Forschungszweigen bereits Anwendung fand, kannte man sie in den Lebenswissenschaften kaum, zumal zu berücksichtigen ist, dass letztere mit viel unregelmäßigeren Messwerten arbeiten mussten, weshalb diese Methode nicht unbedingt die passendste zu sein schien. In einer Fußnote erläutert Helmholtz die Art und Weise, mit welcher Wahrscheinlichkeit und Sicherheit die Messwerte einer bestimmten Versuchsreihe zu betrachten sind:

„Für diejenigen meiner Leser, welchen die Begriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht geläufig sind, bemerke ich hier, dass z.B. die Angabe in der neunten Versuchsreihe, der Werth des Zeitunterschieds wegen der Fortpflanzung sei 0,00175 Secunden mit dem wahrscheinlichen Fehler ±0,00014, nach einem populären Ausdrucke bezeichne, es sei 1 gegen 1 zu wetten, dass der wahre Werth dieser Differenz zwischen 0,00189 und 0,00161 Secunden liege. Es ist ferner 10 gegen 1 zu wetten, dass die Abweichung höchstens 2,5 mal, 100 gegen 1, dass sie höchstens 3,8 mal, 1000 gegen 1, dass sie 4,8 mal so groß sei, als der wahrscheinliche Fehler. Der Werth liegt also mit der Wahrscheinlichkeit  
1 gegen 1 zwischen 0,00189 und 0,00161 
10 gegen 1 zwischen 0,00210 und 0,00140  
100 gegen 1 zwischen 0,00228 und 0,00122  
1000 gegen 1 zwischen 0,00242 und 0,00108“  
[Helmholtz 1850: Messungen, S. 337f.]

Ob die Daten letzten Endes verlässlich und akkurat sind, hängt neben dem Vertrauen auf das verwendete Instrumentarium auch von den individuellen theoretischen Erwartungen des Experimentators ab. Helmholtz versuchte sich seiner Daten zu versichern, indem er in verschiedenen breit angelegten Messreihen eine möglichst viele Messpunkte erzeugte, die er dann miteinander vergleichen konnte. Er baute seine Überzeugungsarbeit nicht nur auf möglichst präzisen Messungen auf, sondern auch auf Berechnung der Ungewissheiten. Auf diese Weise schärfte er die Daten Stück für Stück, näherte sich dem wahrscheinlichsten Wert immer mehr an. Nichtzuletzt zeigte die Methode der kleinsten Quadrate, dass Genauigkeit und Präzision allein keine Garanten für Gewissheit waren. [Vgl. Olesko/Holmes 1993: Experiment, Quantification, and Discovery, S. 98f.]

Dienstag, 24. Mai 2011

Helmholtz: Präzision durch Fehleranalyse und Berechnung des Unbekannten (Part 1)

Die durchwachsenen Reaktionen auf seine ersten Berichte über die Versuche zur Messung der Nervenleitgeschwindigkeit brachten Helmholtz dazu, nicht nur die Überzeugungskraft seiner Berichte sondern auch die seiner Versuche zu überdenken. Er entschied sich für zwei Strategien: die erste fokussierte auf Präzisionsmessungen und die zweite bediente sich der anschaulicheren graphischen Methode. Die erste Strategie der präzisen Messungen ist eng verknüpft mit einer gründlichen Fehleranalyse. Doch was verstand Helmholtz unter dem Begriff der Präzision? Präzision war für ihn zumindest nicht gleichzusetzen mit der Anzahl der Dezimalstellen die er in der Lage war zu messen [Vgl. hierzu und im Folgenden Olesko/Holmes: 1993, S. 95ff.]. Wie ich gerade in Wikipedia sehe, könnte oder muss ich womöglich an dieser Stelle die Begriffe Präzision und Genauigkeit genauer unterscheiden, und zwar in der Weise, wie Helmholtz sie verstanden und gebraucht hat und zum anderen auch wie sie heute angewendet und unterschieden werden. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts konzentrierte man sich bei präzisen Messungen eher auf Techniken, die die Gültigkeit der Daten eingrenzten und die Richtigkeit der Erkenntnisse, die sie lieferten, bestätigten. Helmholtz legte zunächst großen Wert darauf, mögliche externe Störfaktoren und Fehlerquellen zu beseitigen oder zumindest soweit zu minimieren, dass sie das Messergebnis nicht beeinflussten und er sicherstellen konnte, dass die Messergebnisse tatsächlich den zu messenden Ablauf repräsentierten, also den zeitlichen Verlauf der Zuckung des Muskels, und nicht anderweitige Faktoren das Ergebnis verfälschten. Zu solchen Störquellen gehörten Luftströme, Kälte, mechanische Fehler und bestimmte Muskeleffekte. Helmholtz teilte die Fehlerquellen in zwei Klassen: die erste umfasst Fehler, die die Messung der Zeit zwischen Reizung und Öffnung des Stromkreises betreffen, und die zweite Fehler, die verhindern, dass die Trennung der Unterbrechungsstelle im genau erforderten Moment geschieht. Unter den Einflüssen der ersten Klasse, zu denen Helmholtz Störungen der „Bewegung des Magnetes durch Luftströme, Fehler der Ablesung, Dauer des Inductionsstroms, Änderungen in der electromotorischen Kraft und dem Widerstande der Daniellschen Elemente“ zählte, identifizierte Helmholtz nur einen, der das Resultat signifikant verändern konnte, und dieser betraf die „nicht immer vollkommene Schließung des Stroms an der Unterbrechungsstelle.“ In diesen Fällen schlägt die Magnetnadel des Galvanometers kaum aus, weil sich zum Beispiel ein „unsichtbares Stäubchen zwischen Goldkuppe und Goldplatte“ befindet. Dieses verhältnismäßig kleine Problem ist mit einem säuberndem Pinselstrich schnell behoben. Ein anderer Grund für die schlechte Schließung des Kontakts an der Unterbrechungsstelle ist der mangelnde Druck, der an der Stelle ausgeübt wird. Dieses Problem tritt vor allem bei den Versuchen auf, wo der Muskel nicht mit einem Gewicht belastet ist. Leider kann ich Helmholtz' Erklärung hier nicht ganz folgen, eventuell liegt es daran, dass mir die Bedeutung des Stromwiderstands in der elektrischen Leitung nicht ganz klar ist. Ich verstehe es so, dass das Übergewicht dafür sorgt, dass die Unterbrecherstelle ordentlich, Helmholtz sagt „innig“, schließt. Bei dieser innigen Schließung scheint jedoch der Widerstand im Bereich des Kontakts kleiner als im restlichen Stromkeis zu sein, weshalb Helmholtz versucht, diesen Widerstand zu erhöhen bzw. den Strom zu schwächen – das gelingt ihm mit fehlender Überbelastung und zarte Berührung der Kontakte. Genau dieser Zustand tritt auch bei Überbelastung auf, aber eben nur in dem Moment, wo der Muskel zu Zuckung ansetzt und die Lösung der Goldspitze vom Goldplättchen (= Kontakt bzw. Unterbrechungsstelle) beginnt. Juti, äh, wat is jetzt das Problem? Er braucht die Überbelastung, damit der Kontakt schließt, aber dann ist der Widerstand zu gering. Und wenn er keine Überbelastung auflegt, ist zwar der Widerstand größer, aber der Kontakt nicht fest genug geschlossen? Geht’s hier also eher um eine feine Justierung, bei der beide Probleme – zu loser Kontakt vs. zu geringer Widerstand – möglichst gering gehalten werden? Mähh! Einmal Physik for beginners bitte! Ich poste hier mal den Text im Original:

Sehr viel wichtiger ist diese Fehlerquelle, wenn vermöge der Bedingungen dieses Versuchs der Druck an der Unterbrechungsstelle sehr gering und die Berührung der Kuppe und des Plättchens nicht innig genug ist, um nicht dem Strom einen merklichen Widerstand entgegenzusetzen. Das ist der Fall in den Versuchen, wo keine Ueberbelastung aufgelegt ist. Hier kommt es, wie in allen andern Fällen darauf an, den Muskel so einzustellen, dass sich die Metalltheile an der Unterbrechungsstelle möglichst zart berühren, und durch diese Art der Berührung muss auch der Strom hergestellt werden. Ich habe gefunden, dass der Widerstand der Unterbrechungsstelle verschwindend klein ist gegen den der ganzen Leitung, sobald eine ganz geringe Ueberbelastung z.B. 1 grm. aufliegt, und dass demgemäß die Intensität des Stromes nicht verändert wird, mag man viel oder wenig Gewichte noch dazu legen. Dagegen gelang es mir durch möglichst zarte Einstellung bei mangelnder Ueberbelastung den Strom etwa um 1/100 seiner ganzen Größe zu schwächen, weiter konnte ich die Schwächung nicht treiben, ohne ihn gleichzeitig ganz zu unterbrechen. Indessen ist die Möglichkeit nicht zu läugnen, dass der Widerstand der Unterbrechungsstelle jeden beliebigen werth errreiche, auch kommen einzelne Zuckungsversuche ohne Ueberbelastung vor, bei denen die Ausschläge nur 1/3 ider 1/2 so groß sind, als sämmtliche andere entsprechende der Reihe, was vielleicht in dem angegebenen Umstande seinen Grund findet, vielleicht auch in einem später zu erwähnenden. Eine ähnliche Schwächung des Stroms muss auch bei aufgelegter Ueberbelastung in den letzten Augenblicken eintreten, ehe das Gewicht gehoben wird, weil sich nämlich der Druck an der Unterbrechungsstelle um eben so viel schwächt, als die Kraft die Kraft des Muskels steigt, bis er endlich im Augenblicke der Trennung ganz aufhört.“ [Helmholtz (1850): Messungen, S. 310ff.]

Vielleicht liest das ja jemand, der dazu eine Idee hat!?

So, jetzt habe ich mich hier wieder so an einem Detail aufgehongen, dass ich mit dem Thema „Fehleranalyse“ imme r noch nicht durch bin. Also hier geht’s noch weiter, bald mehr.


Samstag, 14. Mai 2011

Wie Helmholtz auf die Idee kam, die Nervenleitgeschwindigkeit zu messen

Wie schon im letzten Post angedeutet, dienten Webers Untersuchungen zur Muskelbewegungen Helmholtz als Grundlage für seine eigenen Versuche auf dem Gebiet.(1) Anders als Weber, der sich für langanhaltende Muskelbewegungen interessierte, wollte Helmholtz momentane Muskelzuckungen untersuchen, die durch einen kurzen Stimulus erzeugt wurden. Für ihn stellte sich damit das Problem, einen Prozess zu betrachten, der nur für einen Bruchteil einer Sekunde ablief. Für seine ersten Testversuche baute Helmholtz sich einen Prototyp, mit dem er einen Froschmuskel elektrisch reizen konnte und die daraus folgende Zuckung auf eine rotierende Trommel aufzeichnete. Helmholtz kombinierte dazu Elemente von Webers Experiment sowie Teile von Carl Ludwigs (1816-1895) Kymograph, einem Gerät, das den Blutdruck graphisch aufzeichnete. Weber hatte bei seinen Versuchen festgestellt, dass organische Muskel auf eine Reizung zeitverzögert reagieren. Bei animalischen Muskeln könnte er diese Verzögerung nicht beobachten und betrachtete die Reaktion als instantan. Helmholtz' Experimente konnten nun auch bei animalischen Muskeln eine Zeitverzögerung feststellen, insofern widerlegte er Webers Erkenntnisse in diesem Punkt.(2) Allerdings erschien Helmholtz sein erster einfacher Apparat nicht präzise und akkurat genug, um mehr Aufschluss über den genauen Verlauf der Muskelzuckung zu geben. Aber immerhin bildeten diese ersten Versuchen den Anstoß für seine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema. Um jetzt präzisere Messungen anstellen zu können, löste Helmholtz sich von der anschaulicheren graphischen Methode und wählte in Anlehnung an Pouillet die elektromagnetische Messmethode. Bei diesen Versuchen stellt Helmholtz fest, dass sich die Muskelzuckung umso mehr verzögert, je weiter entfernt vom Muskel er den Nerv reizt. Das bringt ihn schließlich auf die Idee, die Nervenleitgeschwindigkeit zu messen, was ihm auch gelingt. Die Messungen zur Geschwindigkeit des Nervenimpulses rangierten zwischen 24,6 und 38,4 Metern pro Sekunde. Die Nervenleitgeschwindigkeit war also doch messbar, eine Feststellung die auch den Ansichten Helmholtz' Lehrer Johannes Müller widersprach, der, wie andere Physiologen der Zeit, an eine Ausbreitung der Nervenimpulse mit nicht messbarer Lichtgeschwindigkeit, glaubte. Welche Prozesse genau nun aber diese Impulsausbreitung so verlangsamten und überhaupt ausmachten, darüber gab es noch keine genauen Erkenntnisse und Einigkeit. Jedoch konnte Helmholtz schon auf Du Bois-Reymonds Untersuchungen zurückgreifen: Dieser nahm an, dass bei der Nervenleitung Veränderungen auf molekularer Ebene im Gewebe stattfänden. Helmholtz zog gerne den Vergleich mit der Schallausbreitung oder der Ausbreitung von Explosivstoffen heran. Sehr schön nachzulesen ist dieser Vergleich auch in einem Brief an seinen Vater, der die "Gedanken und körperlichen Affecte nicht als ein Nacheinander, sondern als ein Zugleich" ansah. Er glaubte nicht Recht an eine Verzögerung zwischen Reiz und Reaktion geschweige denn zwischen Reiz und Wahrnehmung - in seiner eigenen Wahrnehmung erschienen ihm diese Prozesse instantan. Geduldig und in der Pflicht zu überzeugen, antwortete Helmholtz ihm ausführlich:

„Du musst bedenken, dass die Wechselwirkung geistiger und körperlicher Acte immer erst im Gehirn stattfindet, und dass das Bewusstsein, die geistige Thätigkeit, mit der Fortführung der Nachricht von der Haut, der Nervenhaut des Auges oder dem Ohr bis zum Gehirn hin nichts zu thun hat, dass für den Geist diese Fortpflanzung innerhalb des Körpers ebenso gut etwas Aeusseres ist, wie die Fortleitung des Schalles von der Stelle, wo er entsteht, bis zu dem Ohre hin. So wie es hier die elastischen Kräfte der Luft sind, welche die Erschütterung des tönenden Körpers bis zu dem Nervenapparate des Ohres tragen, sind es nachher Bewegungen der kleinsten materiellen Theile der Nervensubstanz, welche sich vom Ende des Nerven bis zu seinem Ursprung im Gehirn fortpflanzen, welche hier erst wahrgenommen und zur Nachricht für das Bewusstsein werden. Dass die Geschwindigkeit dieser Fortpflanzung in den Nerven keine so ungeheure sein würde, als die des Lichts und der Electricität, liess sich vermuthen, seitdem man durch die Versuche von du Bois die Electricitätsentwicklung kannte, welche bei der Fortpflanzung einer Nachricht, eines Reizes, durch den Nerven eintritt, weil man daraus schließen musste, dass die materiellen Theile des Nerven dabei ihre Lage ändern. Die Fortpflanzung ist aber in der That langsam genug, langsamer als der Schall. Dass uns die Zeitdauer dieser Fortpflanzung so ungeheuer klein vorkommt, liegt daran, dass wir eben nicht schneller wahrnehmen können, als unser Nervensystem arbeitet, und uns deshalb die Zeiträume, welche dieses zu seinen Verrichtungen gebraucht, unwahrnehmbar klein sind.“(3)

Mit dem Problem der Demonstrierbarkeit seiner Erkenntnisse, die mit der menschlichen Wahrnehmung allein nicht feststellbar waren, hatte Helmholtz zu kämpfen. Er entwickelte darum zwei Strategien: zum einen wollte er mit Präzision anhand quantitativer Messergebnisse überzeugen, zum anderen mit den anschaulicheren graphischen Kurven, die er später in Rückgriff auf seinen ersten Prototyp mit einem neuen und verbesserten Apparat erzeugt. Die erste Strategie der Präzionsmessung ist auch von einer gründlichen Fehleranalyse begleitet. Das werde ich im nächsten Post länger ausführen.


(1) Helmholtz, Hermann von (1850): Messungen über den zeitlichen Verlauf der Zuckung animalischer Muskeln und die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven. Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, S. 276–364, hier S. 276f.
(2) Webers Definition animalischer und organischer Muskeln in Wagner (1846): „Animalische Muskeln nenne ich die, welche, wenn sie gereizt werden, augenblicklich in Zusammenziehung geraten, und auch ebenso schnell wieder in dieser Zusammenziehung nachlassen, sobald die Reizung aufhört. Organische Muskeln sind die, welche nicht im Momente einer schnell vorübergehenden Reizung, sondern erst eine Zeit darauf zur Zusammenziehung angereizt werden und deren Bündel dadurch successiv in einer gewissen Ordnung und Aufeinanderfolge in Zusammenziehung gerathen könnte.“ (Weber, Eduard (1846): Muskelbewegung. In: Wagner, Rudolph (Hg.): Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie. Braunschweig: Vieweg, 3, Teil 2, S. 1–122, hier S. 3). 
(3) Helmholtz in einem Brief an seinen Vater, In: Koenigsberger, Leo (1902): Hermann von Helmholtz. 3 Bände. Braunschweig: Friedrich Viehweg und Sohn (1). S. 122f.

Mittwoch, 27. April 2011

Zwischenbericht über Status quo und einfach mal wieder dem verwaisten Blog einen Besuch abstatten

Muskelprotz Eugen Sandow (1867-1925), fotografiert 1894 von  Benjamin J. Falk. Mit seinen Experimenten konnte Helmholtz zeigen, dass bei der Muskelbewegung mechanische, thermische, chemische und elektrische Prozesse gleichsam eine Rolle spielen. Das trifft auch auf die Muckis dieses Herren zu - und außerdem ist das doch ein echter Hingucker, so mit ohne alle beide Hände. 

Long time no see - und im Prinzip auch noch nichts Bahnbrechendes abzuliefern, aber jetzt habe ich doch den Drang verspürt, mal zu berichten, was ich in letzter Zeit so Magisterarbeitsvorantreibendes gemacht habe. Zurzeit arbeite ich an einen sehr empfehlenswerten und dichten Text von Kathryn Olesko und Frederic Holmes über Helmholtz erste physiologische Experimente (1). Der Text setzt bei den Experimenten von 1843 zur Muskelwärme an - darüber hatte ich zum Teil schon im letzten Post berichtet - und endet dann bei den Versuchen zur Nervenleitgeschwindigkeit. Es zeichnet sich schnell ab, dass Helmholtz großen Wert auf Präzision und exakte Experimente legte und das erreichte er, indem er mögliche Fehlerquellen akribisch analysierte. Mitunter stand die Fehleranalyse mehr im Zentrum eines wissenschaftlichen Berichts, als das Ergebnis des Experiments selbst. "Craftsmanlike" also wie ein Handwerker oder Ingenieur schraubt und justiert Helmholtz an seinen Apparaten, um sie für seine Zwecke anzupassen sowie Reibungsverluste und Fehlerquellen zu minimieren. Spannend ist auch, dass so ein Experiment nie im luftleeren Raum entsteht, sondern dem schon vorhandenes Wissen vorangeht und verschiedene Personen beteiligt sind. Zum Beispiel stützt sich Helmholtz auf Eduard Webers (1804-1891) Untersuchungen zur Muskelbewegung. Weber hatte zu diesem Thema einen Eintrag in Rudolph Wagners (1805-1864) "Handwörterbuch der Physiologie" (2) verfasst und dieser Text gelangte über Emil Du-Bois-Reymond schließlich auf Helmholtz' Schreibtisch - und zwar nicht als PDF per Mail sondern wahrscheinlich via Postkutsche. Weber hatte einen Apparat gebaut, um die Muskelaktivität zu untersuchen. 

Eduard Webers Rotationsapparat. Abgebildet in Weber (1846) S. 11.

Mit dem sogenannten Rotationsapparat wollte er eine dauerhafte Kontraktion in Froschmuskeln erzeugen. Dieser Apparat war für Helmholtz' Zwecke auch sehr nützlich, weil er den Strom besser regulieren konnte als bei seinen vorherigen Versuchen mit der Leydener Flasche. Helmholtz entschied sich dann aber doch gegen Webers Rotationsapparat und baute sich auch keinen eigenen, sondern ließ sich von dem Berliner Instrumentenbauer Johann Georg Halske (1814-1890) einen "Neefschen Apparat", eine Induktionsspule, anfertigen. (Halske war später auch am landesweiten Ausbau des Telegraphennetzes beteiligt - das wird dann im Zusammenhang mit den Experimenten zur Nervenleitgeschwindigkeit interessant, weil Helmholtz sich auch dafür seine Geräte von Halske bauen lässt und es dabei auch Parallelen gibt, was den Vergleich von Nervenbahnen mit Telegraphendrähten angeht. Dazu hatte ich auch schon was gepostet. Das aber nur nebenbei.) Nachdem Helmholtz den Apparat anpasste und kalibrierte, erfüllte er den selben Zweck wie der Rotationsapparat, indem er nämlich durch kurz aufeinanderfolgende Reize den Muskel in eine dauerhafte Kontraktion versetzte. Helmholtz fand schon 1845 im Experiment heraus, dass bei der Muskelbewegung Wärme erzeugt wird und konnte dieses Ergebnis zwei Jahr später in einem präziseren Experiment bestätigen. Die Frage war dann noch, was die Wärme erzeugte: Ein Prozess, der in den Muskeln selbst zu verorten war, oder, wie Antoine César Becquerel (1788-1878) und Gilbert Breschet (1784-1845) zuvor annahmen, durch die Bewegung des Blutes in den Gefäßen. Helmholtz konnte zeigen, dass die Wärme in den bewegten Muskeln erzeugt wurde und legte damit den Grundstein für einen einheitlichere Betrachtung der Muskelbewegung, bei der mehrere Prozesse ablaufen: mechanische, chemische, thermische und elektrische. Seinen Erfolg maß Helmholtz aber nicht allein an den Ergebnissen seiner Versuche, sondern in erster Linie am präzisen Design, der feinen Justierung seiner Apparate und dem sorgfältig ausgerichteten Ablauf der Experimente, wobei er auch seinen negativen Ergebnisse ausführlich dokumentierte.

So, und jetzt bin ich noch nicht mal zu den Nervenleit-Versuchen vorgedrungen. Wie gesagt, in dem Text von Olesko und Holmes steckt viel drin und es gibt auch viele Querverweise auf relevante Literatur, in die man auch mal reingeschaut haben sollte. Ich glaube, der Text gibt einen guten Eindruck von dem ganzen Drumherum und zur Vorgeschichte der Versuche, die mich eigentlich interessieren. Darüber werde ich aber später berichten.


(1) Olesko, Kathryn M.; Holmes, Frederic L. (1993): Experiment, Quantification, and Discovery. Helmholtz's Early Physiological Researches, 1843-50. In: Cahan, David (Hg.): Hermann von Helmholtz and the Foundations of Nineteenth-Century Science. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, S. 50–108.

(2) Weber, Eduard (1846): Muskelbewegung. In: Wagner, Rudolph (Hg.): Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie. Braunschweig: Vieweg, 3, Teil 2, S. 1–122.

Freitag, 8. April 2011

Bei Muskelbewegungen laufen chemische Prozesse ab - das belegen Helmholtz' erste Muskel-Experimente

Im Jahre 1845 berichtet Helmholtz in dem Beitrag "Ueber den Stoffverbrauch bei der Muskelaktion" [Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, Hg. Johannes Müller] über einen seiner ersten Versuche zur Muskelaktivität. Er konnte nachweisen, dass bei der mechanischen Muskelbewegung auch chemische Prozesse ablaufen. Sein Versuch schloss auch an die Frage nach der Lebenskraft an,


"nämlich die, ob das Leben der organischen Körper die Wirkung sei einer eigenen, sich stets aus sich selbst heraus erzeugenden, zweckmäßig wirkenden Kraft, oder das Resultat der auch in der leblosen Natur thätigen Kräfte, nur eigenthümlich modificirt durch die Art ihres Zusammenwirkens [...]" (1)

Helmholtz war kein Verfechter der Lebenskraft, sondern folgte dem Weg Liebigs (1803-1873), der bereits vor ihm physiologische Zusammenhänge aus chemischen und physikalischen Gesetzen herleitete.

Übrigens verwendete Helmholtz auch bei diesem Experiment Froschschenkel, die er unter Strom setzte. In seinem kleinen Bericht findet sich auch das berühmte Zitat von den "Märtyern der Wissenschaft" (sorgte für meinen heutigen heureka-Moment :). Froschschenkel hatten den Vorteil, dass sie nach dem Tod länger reizbar waren -  anders als Muskeln warmblütiger Tiere. Es waren also ganz pragmatische Gründe, weshalb die Frösche für die Versuche herhalten mussten und Helmholtz würdigt ihren unfreiwilligen Einsatz, indem er sie in den Stand der Märtyrer hob.

(1) Helmholtz, Hermann von (1845): Ueber den Stoffverbrauch bei der Muskelaktion. In: Müller, Johannes (Hg.): Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. Berlin: Veit & Comp., S. 72–83, hier S. 72

Mittwoch, 6. April 2011

Berliner Unis und MPIWG planen Zentrum für Wissenschaftsgeschichte

Die Berliner Universitäten und das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte planen ein Zentrum für Wissensgeschichte. Sie kooperieren schon seit ein paar Jahren und haben jetzt begonnen auf einer Website ihre Aktivitäten zu bündeln. Aktuell kann man zum Beispiel in den gesammelten Veranstaltungen zum Thema Wissenschaftsgeschichte an der HU, FU und TU stöbern. Die Website soll noch ausgebaut werden - ich bin gespannt, was noch draus wird.

Ich habe mir auch schon drei Veranstaltungen herausgesucht, die ich eventuell besuchen werde, interessanterweise alle drei an der TU (die TU wird dieses Jahr in die Kooperation aufgenommen):

  1. Die Vorlesung "Geschichte von Elektrizität und Magnetismus" läuft immer dienstags von 14-16 Uhr, Fakultät I der TU, H 0104
  2. Das Seminar "Ignoramibus! Die Grenzen des Wissens" bezieht sich auf du Bois-Reymonds Ausspruch und dabei geht es um die Grenzen der Erkenntnis, die Naturwissenschaft liefern kann (Ignoramus et ignoramibus - Wir wissen es nicht und wir werden es nie wissen) mittwochs 14-16 Uhr, Fak.I, H 3013
  3. Das Seminar "Die graphische Methode" klingt auch sehr verlockend, bezieht sich, wenn ich mich recht erinnere auf Mareys Versuche Ende des 19. Jh., er hatte ja auch den Myographen nachgebaut und beschrieben. Immer mittwochs 10-12, MA 841
Die drei Veranstaltungen finden alle in der Straße des 17. Juni 135 statt [Campusplan]. Mal schauen, nächste Woche geht das los.

Dienstag, 29. März 2011

Die "Ameisentheorie": Von handelnden Dingen und Menschen in hybriden Netzwerken

Collage: Fraktal als bildliche Entsprechung für das heterogene Netzwerk, bestehend aus heterogenen Akteuren (Bild: Fedi/Wikipedia) mit  kämpfenden Ameisen, englisch ant/s, wie die Abkürzung der Akteur-Netzwerk-Theorie ANT: Ein Ameisenhaufen ergibt auch ein schönes Sinnbild für das Akteur-Netzwerk.  Bild: Kalyan Varma/Wikipedia). OK, die Aussage der Collage kommt ein bisschen wie Knüppel auf den Kopf, aber was solls ... :)


Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) entstammt der Wissenschafts- und Technikforschung und stellt die Beziehung zwischen Mensch und Technik in den Vordergrund. Für die ANT bestimmen nicht Wissenschaft und Technik den Menschen sondern umgekehrt: Der Mensch konstruiert die Maschinen nach seinem eigenen Vorbild. Dementsprechend behandelt die ANT Menschen und technische Apparate gleichsam als soziale Akteure. Ziel der Theorie ist es aber nicht Menschen als Objekte zu betrachten und Subjektivität auf Dinge zu übertragen, sondern ihre Trennung zu umgehen und vielmehr von einer Verflechtung beider auszugehen. Der französische Soziologe Bruno Latour (*1947), einer der Begründer und Hauptvertreter dieser Theorie, bezeichnet die Form, in der menschliche und nicht-menschliche Akteure zusammenwirken, als "Kollektiv".

"Es handelt sich dabei um Netzwerke von Artefakten, Dingen, Menschen, Zeichen, Normen, Organisationen, Texten und vielem mehr, die in Handlungsprogramme 'eingebunden' und zu hybriden Akteuren geworden sind. Die Hybride entfalten sich in einem Bereich zwischen Natur und Kultur, zwischen Objekt und Subjekt und bilden eine bis heute kaum theoretisch erfasste Form kommunikativer Ordnung [...]." (1)

Die ANT bricht klassische Dichotomien wie Natur/Kultur oder Subjekt/Objekt auf und setzt sie miteinander in Beziehung. Sie betrachtet die Sphären nicht als voneinander getrennt sondern als sich schon immer gegenseitig beeinflussend und miteinander verwoben. Insofern versteht sich die ANT auch als Kritik der Moderne, die die Welt in sich gegenüberliegende Bereiche eingeteilt und voneinander getrennt hat.

"Zeichen, Menschen, Institutionen, Normen, Theorien, Dinge und Artefakte bilden Mischwesen, techno-soziale-semiotische Hybride, die sich in dauernd verändernden Netzwerken selbst organisieren. Die Moderne hat durch Reinigungsverfahren aus diesem Realitätsmix Konstrukte wie Natur und Gesellschaft, Subjekt und Objekt herauspräpariert und zu Erklärungsgründen erhoben, wobei diese Konstrukte eigentlich das sind, was einer Erklärung bedarf." (2)

Ein zentraler Begriff der ANT ist der des "Akteurs" oder "Aktanten" – damit kann sowohl ein Mensch als auch ein nicht-menschliche Entität gemeint sein. Unter der Devise, die Dinge sprechen zu lassen, wird auch nicht-menschlichen Akteuren die Fähigkeit zu handeln zugesprochen. Ein Akteur definiert sich dabei aber nicht als Subjekt mit Selbstbewusstsein und freiem Willen: "Intentionalität, Freiheit und psychische Innerlichkeit [gelten] nicht mehr als notwendige Eigenschaften eines Akteurs". (3) Dieser Grundsatz betrifft sämtliche Akteure, also auch die menschlichen, und ebenet damit den Weg für ein verändertes Subjektverständnis. "Die ANT schafft Freiraum für ein neues Menschenbild und bietet zugleich Anschlussmöglichkeiten an eine Reihe von Theorien [...], welche das autonome rationale Subjekt der Moderne in Frage stellen." (4)

Aktuere selbst sind auch komplex, sie können im hybriden Netzwerk andere Identitäten, Funktionen und Rollen einnehmen. Ein Beispiel dafür ist das Netzwerk von Schusswaffe und Mensch. Die Behauptung "Schusswaffen töten Menschen" ist materialistisch und technikdeterministisch. Die Aussage "Menschen töten Menschen, nicht Schusswaffen" ist dagegen sozialdeterministisch, da sie davon ausgeht, das alle Handlung vom Menschen ausgeht und die Schusswaffe nicht zur Handlung beiträgt. Von diesen beiden Sichtweisen distanziert sich die ANT, da sie das hybride und heterogene Wesen der Akteure nicht mitdenken. Die Waffe für sich genommen tötet noch nicht von selbst und der Mensch ohne Waffe will vielleicht nur verletzen. Der Mensch mit der Waffe in der Hand beziehungsweise die Waffe in der Hand des Menschen, werden aber zu etwas transformiert, das die Absicht hat zu töten.

"Der menschliche Akteur verschmilzt mit der Waffe und wird zu einem anderen Akteur, einem 'Waffen-Menschen' oder einer 'Menschen-Waffe'. Die Übersetzung ist symmetrisch, denn der Mensch ist ein anderer mit der Waffe in der Hand und die Waffe ist eine andere in der Hand des Menschen." (5)

Nicht nur des Netzwerk ist heterogen, auch die Akteure, die in dem Netzwerk miteinander veränderliche Bindungen eingehen, sind es, weshalb Belliger und Krieger in ihrer Einführung zur ANThology, auf die ich mich in diesem Eintrag beziehe, auch das Bild des Fraktals evozieren. (Ein Fraktal, auch Mandelbrot oder Apfelmännchen genannt, ist ein geometrisches Gebilde, das aus vielen verkleinerten Kopien seiner selbst besteht.)

Ein spannende Theorie, die sich für mein Vorhaben sehr schön anwenden lässt. Das geht natürlich noch weiter in die Tiefe, schließt an die Semiotik/Saussure und die Systemtheorie/Luhmann an. Aber der Grundgedanke gefällt mir...

(1) Belliger, Andréa; Krieger, David J. (2006): Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. In: Belliger, Andréa; Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript Verlag, S. 13–47, hier S. 15
(2) Ebd.: S. 23
(3) Ebd.: S. 35
(4) Ebd.: S. 35
(5) Ebd.: S. 42

Mittwoch, 16. März 2011

Experimentalsysteme als Zukunftsmaschinen

www.nichtlustig.de

Im Jahr 1999 trafen sich Wissenschaftler aus verschiedenen Fachrichtungen, um über die Perspektiven einer kulturwissenschaftlich orientierten Wissenschaftsgeschichte zu sprechen. Initiiert wurde dieser Workshop vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, namentlich Hans-Jörg Rheinberger, Henning Schmidgen und Sven Dierig. In seinem einführenden Vortrag stellt Henning Schmidgen die Praxis des Experimentierens ins Zentrum einer neu verstandenen Wissenschaftsgeschichte, die sich von den Praktiken ausgehend den historischen Kontext erschließen will.

"Es geht uns um eine an den Versuchsanordnungen, an den 'Experimentalsystemen' (Rheinberger) orientierte  Wissenschaftsgeschichte, die diese Systeme im Kontext ihrer materiellen und semiotischen Kultur situiert und davon ausgehend das kulturelle Feld insgesamt neu aufrollt, es gleichsam neu kartographiert." [PDF, S. 12f.]

Der Fokus in dieser Art der Wissenschaftsgeschichtsschreibung liegt nicht auf einer Person, Institution, Idee oder einem Diskurs, sondern konzentriert sich auf das konkrete Experiment, bzw. Experimentalsystem. System deshalb, weil im Experiment an sich schon immer verschiedene Komponenten zusammenwirken. Schmidgen spricht in Anlehnung an die Soziologie von einem Zusammenwirken von Aktanten, also menschlichen und nicht-menschlichen Handelnden, wie

"technischem Personal, Diplomanden und Doktoranden, ständigen Wissenschaftlern; einer Vielzahl von Meß- und Manipulationsgeräten, speziellen Ausrüstungen, Rechenanlagen; einem System zur Bereitstellung von Verbrauchsmaterial und nicht zuletzt einer entsprechenden Laborarchitektur." [PDF, S.16f.]

In Anlehnung an den Physiologen François Jacobs definiert Schmidgen das Experimentalsystem als "Zukunftsmaschine", da es nicht nur einen technischen Ablauf stabil reproduziert, sondern zusätzlich etwas Neues hervorbringt beziehungsweise so konstruiert ist, dass es durchlässig genug ist für das Unvorhergesehene. Stabilität und Permeabilität sind also zwei wesentliche Merkmale eines Experimentalsystems.

Entsprechend diesem Ansatz betrachte ich den Myographen auch als ein System, in dem verschiedene Komponenten bzw. Aktanten, anorganisches und organisches Material  zusammenwirken. All diese "Teilnehmer" generieren im Ensemble neue Zeichen, wissenschaftliche Erkenntnisse, die im Falle des Myographen sprichwörtlich in Form der Muskelzuckungskurven "aufgeschrieben" werden. Aber der Schreibende ist eben nicht mehr ein einzelnes Subjekt,

"sondern jenes Gefüge von Mensch, Tier und Maschine, bei dem die semiotische Tätigkeit in variabler Weise von einem oder mehreren der humanen bzw. nonhumanen Aktanten ausgeübt werden kann. So wird von ihnen mit an einer Graphosphäre gearbeitet, die sich an die Mechanosphäre der Versuchsaufbauten anlagert." [PDF, S. 20]

Freitag, 4. März 2011

Unsortierte Gedanken zu historischen Vorstellung über die Seele/Geist/Lebenskraft

„Das Descartsche Modell für den ‚Lebensgeist‘: Hält ein Mann seinen Fuß zu nah am Feuer (A), dringt die Energie durch die Haut (B) ein. Eine dünne Leitung (c) gerät dadurch in Bewegung. So gelangt die Information zu dem ‚Lebensgeist‘ (F), der im Gehirn lokalisiert ist.“ Zitiert nach: Miketta, Gaby (1991): Netzwerk Mensch. Psychoneuroimmunologie: Den Verbindungen von Körper und Seele auf der Spur. Eine neue Wissenschaft revolutioniert unser Weltbild. Stuttgart: Georg Thieme Verlag. S. 13 (Fußnote)

Jetzt placken sich die Denker seit der Antike damit ab, das was wir "Seele" nennen (und damit durch die Jahre auch Geist, Bewusstsein, Denken, Unbewusstes, Vernunft, Emotionen usw. meinen), näher zu bestimmen und dann kommen die Materialisten und sagen: Interessiert uns nicht! Schluss mit der Metaphysik, es ist müßig, über etwas zu sprechen, das sich nicht im Experiment nachweisen lässt. Obwohl man bedenken muss, dass der Begriff der Seele in der Geschichte viele verschiedene Zuschreibungen erfahren hat, er wurde immer wieder umgedeutet und bezeichnete aber immer etwas Unsichtbares und Ungreifbares, das die Existenz des Menschen bestimmt. Helmholtz' Lehrer, der bekannte Physiologe Johannes Müller, war lange Zeit ein Vertreter des Vitalismus. Der Vitalismus trennte zwischen dem Organischen und Anorganischen, wobei angenommen wurde, dass das Organische von einer Lebenskraft oder vis vitalis durchflossen sei. Man könnte diese Lebenskraft mit dem sogenannten "Qi" in der fernöstlichen Lehre vergleichen. Galvani glaubte ja noch bei seinen Experimenten, bei denen er Frösche mit Stromstößen traktierte, diese Lebenskraft gefunden zu haben. Das Nervensystem ist das Bindeglied, denn im Gehirn wurde schon in der Antike der Sitz der Seele vermutet. Zwar glaubte Aristoteles, dieser Sitz müsste das Herz sein - diese Annahme hielt sich lange und ist bis heute als Metapher zu finden - jedoch Hippokrates und Galen und bereits 120 Jahre vorher Alkmaeon vermuteten selbiges in der grauen Masse. Im 17. Jahrhundert griff Descartes diese Denktradition auf und schrieb der Zirbeldrüse seelische Qualität zu. Das Nervensystem war im 16. Jahrhundert zwar schon bekannt, aber Descartes stellte es sich wie ein Rohrleitungssystem vor, durch den der Geist strömte. Diese Vorstellung hat er in der obigen Abbildung skizziert. Fortsetzung folgt...

Dienstag, 15. Februar 2011

Helmholtz-Biographien: Fast neues Buch vs. alt und online

Noch zwei Literaturtipps zu Helmholtz-Biographien:

1. Meulders, Michel: Helmholtz. From nlightenment to Neuroscience (2001), Englische Fassung von 2010. Ist eigentlich mehr als eine Biographie, weil Meulders auch einige von Helmholtz Experimenten und Erfindungen unter die Lupe nimmt. Außerdem streut er nette Anekdoten ein, das Lesen macht also auch noch Spaß ;). Erster Leseeindruck: Empfehlenswert! (Danke für den Buchtipp an Antorot)

2. Die gute Helmholtz-Bio von Leo Koenigsberger, einem Freund von Helmholtz. Alle drei Bände aus den Jahre 1902-1903 stehen als PDF zum Download zur Verfügung, großartig!

Myograph in action: Der Ablauf des Versuchs

Bevor der gesamte Versuch starten kann, muss auf dem Zylinder noch deine Markierung, die dem Augenblick der Reizung entspricht, gesetzt werden.

„Zu dem Ende lässt man den Zeichenstift sich an den Cylinder anlegen, und dreht die Schwungscheibe ganz langsam, bis ihr Daumen den Hebel […] berührt. So lange hat der Stift einen horizontale Linie gezeichnet; in dem Augenblicke der Berührung aber löst sich der inducierte Strom aus, der Muskel zuckt und diese Zuckung entspricht auf dem Cylinder eine einfache Verticallinie […]. Es ist klar, dass diese Verticallinie an der Stelle gezeichnet wird, wo der Stift in dem Augenblicke des Zusammenstosses von Hebel und Daumen, d.h. Im Augenblicke der Reizung steht.“1

Sobald der Vorsprung der Schwungscheibe sich also auf Höhe des Hebelarms befindet, zeigt die Zeichenspitze auch immer auf die gesetzte Markierung auf dem Zeichenzylinder. Nachdem die Markierung gesetzt wurde kann der Versuch starten. Dazu wird der Stahlstab herunter gedrückt, was zur Folge hat, dass der Zeichenstift den Zylinder nicht berührt und dass der Hebel nicht vom Vorsprung der Schwungscheibe getroffen werden kann. In dieser Haltung wird das Uhrwerk gestartet. Ob die richtige Geschwindigkeit erreicht ist, kann über die Position der Pendelkugeln festgestellt werden. „Sobald man bemerkt, dass die Schwungkugeln sich zu trennen anfangen, kann die Zeichnung ausgeführt werden.“2 Nun lässt man den Stahlstab los, worauf sich das Brettchen samt Hebel senkt und der Zeichenstift anlegt. „Nun geht der Daumen nicht mehr an dem Hebel vorüber, sondern trifft ihn, wirft ihn um und bewirkt dadurch die Zuckung, deren Verlauf auf dem Cylinder sich aufzeichnet.“3 Der Hebel ist also so montiert, dass er bei Berührung mit dem Vorsprung der Schwungscheibe umkippt, sodass bei einer erneuten Drehung kein weiterer Stromstoß ausgelöst wird. Ein Versuch impliziert also einen Stromstoß und dabei wird auch nur eine einzige Zuckungskurve aufgezeichnet.

Helmholtz wollte in seinen Versuchen nun aber Messungen von verschiedenen Enden des am Muskel befindlichen Nervens anstellen. Dazu führte er jeweils zwei Kurven übereinander aus: die eine von der dem Muskel nähere stehenden Nervenstelle und die andere von der entfernteren Nervenstelle. Um die beiden Kurven später voneinander unterscheiden zu können, zeichnete er in die Rußschicht mit einer Starnadel gekrümmte Häkchen „so an den auf- und absteigenden Theil der ersten Curve, dass sie von der zweiten abgewendet standen.“4

Um die Kurven auf der Rußschicht des Zylinders aufbewahren zu können, wird der Zylinder aus der Appartur entnommen und auf einer „angehauchten Fischleimplatte […] von der Art, wie sie die Kupferstecher zum Copiren der Zeichnungen gebrauchen“5 abgerollt. Beim Abrollen bleibt der Ruß auf der klebrigen Leimplatte haften, wobei die freigekratzen Kurvenspuren ausgespart bleiben. Der Abdruck auf der Leimplatte zeigt die Kurven nun aber gespiegelt. Deshalb wird von der berußten Seite des Leimblatts ein weiterer Abdruck auf einem nassen weißen Blatt Papier angefertigt. „Die Curven erscheinen dann weiss auf schwarzem Grunde, und sind sehr deutlich sichtbar.“6

Mit der graphischen Methode kann Helmholtz also leicht zwei Kurven, mit jeweils unterschiedlich vom Muskeln entfernten, gereizten Nervenstellen, direkt miteinander vergleichen. Das ist ein entscheidender Vorteil gegenüber der Pouilletschen Messmethode, die er bei seinen ersten Versuchen angewendet hatte.

„Der grosse Vortheil der beschrieben Methode besteht darin, dass man in jeder einzelnen Zeichnung zweier zusammengehöriger Curven unmittelbar aus ihrer Gestalt erkennen kann, ob der Muskel in beiden Fällen gleichmäßig gearbeitet habe, während wir dasselbe bei der electromagnetischen Zeitmessungsmethode nur aus einer langen Reihe von Einzelversuchen entnehmen konnten.“7

Die Versuche zur Fortpflanzungsgeschwindigkeit eines Reizes im Nerven mit dem Myographen bestätigte die Ergebnisse aus den ersten elektromagnetischen Versuchen, obwohl sich der horizontale Abstand der beiden Kurven nicht mit sehr großer Genauigkeit messen ließ. Bei einem Kurvenpaar beträgt dieser Abstand zum Beispiel einen Millimeter. Bei einem Zylinderumfang von 85, 7 mm und sechsfacher Drehung desselben pro Sekunde beträgt die Länge der Abszisse für eine Sekunde das Sechsfache des Zylinderumfangs, also 514,2 Millimeter.

„Die Länge von 1mm entspricht also 1/514,2 Sekunde. Die Länge der Nervenleitung war 53mm; daraus folgt die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von 27,25 Metern in der Sekunde. Der wahrscheinlichste Werth aus den früheren Versuchen war 26, 4 Meter.“8

Helmholtz' Lehrer, der Physiologe Johannes Müller, glaubte, die Nerven würden Reize mit Lichtgeschwindigkeit transportieren (300 Mio. Meter pro Sekunde). Diese Annahme konnte Helmholtz mit seinen Experimenten eindeutig widerlegen. Im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit schleichen die Reize förmlich im Schneckentempo durch die Nerven. Diese Erkenntnis wirft natürlich weitere Fragen rund um die Wahrnehmung und das Bewusstsein auf, und Helmholtz hatte ja auch noch ähnliche Versuche am Menschen angestellt, wo er die Reaktionszeit testete. Eventuell werde ich noch darauf kurz eingehen könne, aber vielleicht sprengt das auch den Rahmen meiner Arbeit. Wir werden sehen...

1) Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 209f.
2) Ebd.: S. 210
3) Ebd.: S. 210
4) Ebd.: S. 210f.
5) Ebd.: S. 211
6) Ebd.: S. 211
7) Ebd.: S. 215
8) Ebd.: S. 216

Wie bau ich mir einen Myographen, Teil 4: Rechtzeitiger Stromschlag


Genau wie bei seinen ersten Messversuchen mit Pouillets Methode steht Helmholtz auch beim Myographen vor der Schwierigkeit, die Aufzeichnung synchron mit dem elektrischen Reiz starten zu lassen. Dazu hat er wieder eine kleiner Apparatur gebaut, die diese Anforderungen erfüllen soll. Die Vorrichtung besteht aus einem beweglichen Brettchen, an dem ein Stahlstab befestigt ist, der per Hand die Position des Brettchens wie beim Kippen einer Wippe ändern kann. Der Grad der Änderung wird durch zwei verschieden hohe Stahlschrauben unter dem Brettchen beschränkt. Auf der oberen Seite des Brettchens ist eine drehbare Achse eingesetzt, die durch zwei Metallplatten gehalten wird. An dem der Schwungscheibe zugewandten Ende der Achse ist ein senkrechter Hebelarm befestigt. Sein oberes Ende ist in Richtung des Scheibenrands gebogen und kann von einem Vorsprung dieses Randes getroffen werden, sofern das entsprechende Ende des beweglichen Brettchens auf der höher eingestellten vorderen Stahlschraube ruht. Eine Feder unterhalb des Brettchens bewirkt, dass das Brettchen der Stellung zugeneigt ist, bei der der Vorsprung der Drehscheibe den Hebelarm trifft. Wird durch Herunterdrücken des Stahlstabes dagegen des hintere Ende des Brettchens auf die niedrigere hintere Schraube gedrückt, geht der Vorsprung der Schwungscheibe ohne Berührung an dem gebogenen Hebelarm vorbei. In der Achse, die mit diesem Hebelarm verbunden ist, befinden sich zwei Drahtklemmen mit Kupferdrähten. Die amalgamierte Spitze des einen ist in ein Quecksilbernäpfchen eingetaucht und die Platinspitze des anderen ruht auf einem Platinblättchen. Durch ein leichtes Übergewicht der Achse steht die Platinspitze mit dem Platinblättchen stets im Kontakt. Das Platinblättchen steht über einen Draht und eine Klemme außerdem mit einem weiteren Quecksilbernäpfchen unterhalb des Brettchens in leitender Verbindung. Diese leitende Verbindung wird jedoch in dem Augenblick unterbrochen, wenn der Vorsprung der Schwungscheibe gegen den Hebelarm stößt. Durch die Quecksilbernäpfe

„wird der Strom eines Daniell'schen Elements geleitet, in dessen Kreis gleichzeitig eine Drahtspirale No. 1 eingeschaltet ist. Diese liegt in einer zweiten solchen Spirale No. 2, deren Enden mit dem Nerven in Verbindung gesetzt sind. In dem Moment also, wo der Daumen [i.e. der Vorsprung der Schwungscheibe, Anm. F.R.] […] gegen den Hebel […] stößt, wird der Strom in No. 1 unterbrochen, und dadurch in No. 2 ein inducierter Strom erregt, welcher den Nerven durchfährt. […] Der Moment des Stoßes fällt also genau mit dem Moment der Nervenreizung zusammen.“1

Der Stahlstab, der die Achse und den Hebelarm trägt, ist über eine Schnur außerdem mit der zeichnenenden Spitze verbunden: er „dient dazu den Zeichenstift so lange von dem Zylinder entfernt zu halten, bis die Zeichnung ausgeführt werden soll.“2 Durch Drehung des Stahlstabes wickelt sich die Schnur auf denselben und so kann der entsprechende Abstand der Spitze vom Zeichenzylinder eingestellt werden. Die Apparatur ist so eingestellt, dass der Stift bei jeder Aufzeichnung an derselben Stelle des Zylinders startet, sodass mehrere sich überlagernde Kurvenzeichnungen mögliche sind.

1) Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 208
2) Ebd.: S. 209

Wie bau ich mir einen Myographen, Teil 3: Uhrwerk, Pendel und Schwungscheibe


Das Uhrwerk sollte den Zeichenzylinder eigentlich in eine gleichförmige Drehgeschwindigkeit versetzen. Die Schwierigkeit lag nun gerade darin zu gewährleisten, das Uhrwerk und letztendlich den Zylinder permanent gleichförmig drehen zu lassen – eine Aufgabe, die

„streng zu lösen, […] der praktischen Mechanik bisher noch nicht gelungen ist. So vollkommen man die Uhrwerke mit springendem Gange herzustellen weiss, so wenig ist das bei denen der Fall, welche sich ununterbrochen gleichförmig drehen sollen.“1

Gewöhnlich wird ein Kegelpendel mit entsprechendem Gewicht an den Enden als Regulator des Ganges eingesetzt. Angeregt durch das Uhrwerk vollführt das Kegelpendel eine Kreisbewegung um die vertikale Achse. Je nach Größe und Richtung des ersten Anstoßes jedoch kann das Pendel

„bald Kreise, bald Ellipsen um die Verticale beschreiben, und wenn dies letztere der Fall ist, so dreht es sich, und mit ihm das ganze Uhrwerk, schneller in den Punkten der Bahn, wo es der Verticalen näher, als in denen, wo es ihr ferner ist.“2

Das bedeutet, die Drehungsgeschwindigkeit ist Schwankungen ausgesetzt, die sich direkt auf die Messkurve auswirken. Beim Kymographen spielten diese Schwankungen kaum eine Rolle, da eine Umdrehung des Zylinders vielen Umdrehungen des Kegelpendels entsprach.3 Bei Helmholtz Myographen ist das anders: hier dreht sich der zu beschreibende Zylinder sechs Mal pro Sekunde und das Kegelpendel, wie ich noch genauer ausführen werde, ungefähr ein Mal pro Sekunde.

„Bei einem elliptisch schwingenden Kegelpendel von einer Sekunde Umlauf würden also die ganzen Umlaufszeiten des Cylinders abwechselnd größer und kleiner werden. Unsere Versuche bedingen aber, dass die Drehungsgeschwindigkeit des Cylinders nicht um 1/100 ihres ganzen Werthes variiere.“4

Für die Zwecke im Myographen, wo kleinste Zeiteinheiten gemessen werden sollen, was eine extreme Genauigkeit erfordert, werden diese Schwankungen also zum Problem. Außerdem ist es nicht möglich bei so kleinen Abweichungen, den Übergang des Kegelpendels von der Kreisbewegung zur elliptischen Bewegung – und umgekehrt – zu erkennen und zu verhindern. Aber gerade weil die zu messenden Zeiträume sehr klein sind, sieht Helmholtz eine Chance die Messungen immer zwischen den Schwankungen durchzuführen, wenn die Drehung gerade eine stabile Phase durchläuft. Bedingung wäre, dass die Schwankungen nur langsam vor sich gehen würden.

„Wenn also die Drehungsgeschwindigkeit des Uhrwerks langsame Schwankungen ihrer Größe zeigt, so brauchen wir das nicht zu fürchten, falls wir nur die Zeitpunkte erkennen können, wo sie den genau geforderten Werth hat.“5

Um die Veränderungen der Geschwindigkeit zu verlangsamen, integriert Helmholtz in seine Apparatur

„eine schwere, mit Blei ausgegossene Schwungscheibe […] von einem Pfunde Gewicht. Bei dem großen Beharrungsvermögen dieser Scheibe ändert sich die Geschwindigkeit ihrer Drehung nur sehr langsam, wenn die treibenden Kräfte des Uhrwerks etwas grösser oder kleiner werden.“6

Die Schwungscheibe ist mittig an der Achse befestigt, die an ihrem unteren Ende durch das Uhrwerk angetrieben wird und am oberen Ende den Zeichenzylinder trägt. Am unteren Ende der Schwungscheibe laufen zwei drehbare Flügel in einer kreisförmigen und mit Öl gefüllten Rinne. Die in der Höhe verstellbare Rinne und die beweglichen Flügel dienen der Regulierung der Uhrwerksgeschwindigkeit.

„Durch die verschiedene Stellung der Flügel […] und der Rinne kann der Widerstand, welchen das Oel der Bewegung der Flügel entgegensetzt, und dadurch auch die Geschwindigkeit des Uhrwerks innerhalb ziemlich weiter Grenzen beliebig geändert und regulirt werden.“7

Das Kegelpendel kann zwar nicht mehr als Gangregulator eingesetzt werden, jedoch kann es durchaus als Mittel dienen, nun die Größe der Umdrehungsgeschwindigkeit zu erkennen. Die beiden Schwungkugeln des Pendels hängen an einer Achse, die durch ein 48 Zähne zählendes Zahnrad gedreht wird. Dieses Zahnrad steht mit dem restlichen Uhrwerk samt treibenden Gewichts in Verbindung und greift gleichsam in das 12-zahnige Rad der Achse ein, welche die Schwungscheibe und den Zylinder antreibt. Wir wissen bereits, dass diese Achse, die den Zeichenzylinder trägt, sich sechs Mal pro Sekunde drehen soll. Das bedeutet, dass das Zahnrad mit den 48 Zähnen, an dem das Pendel hängt, sich vier Mal so langsam bewegt, also 1,5 Mal pro Sekunde. Anhand der Umdrehungszeit, der Schwerkraft und des Winkels, in dem die ruhenden Kugeln stehen, kann Helmholtz die nötige Länge der Pendel errechnen und entsprechend einstellen. Aus der Berechnung geht auch die optimale Position der Kugeln für die Messphasen hervor.

„Wählt man […] zur Anstellung der Versuche solche Zeiträume, wo die Kugeln weniger als ihren Halbmesser Distanz zwischen sich lassen, so ist man sicher, dass die Drehungsgeschwindigkeit bei den verschiedenen Versuchen nicht um 1/400 ihres Werthes variirt hat.“8

Das heißt also, das Helmholtz, nachdem er das Uhrwerk in Gang gesetzt hat, über die Position der sich drehenden Pendelkugeln den günstigen Moment für eine stabile Messung erkennen kann, nämlich genau dann, wenn der Abstand zwischen beiden Kugeln weniger als die Hälfte ihres Radius beträgt. Die Schwungscheibe mit ihrem Gewicht dient dabei zur Verlangsamung der Änderung der Geschwindigkeitsschwankungen, sodass jede Änderung der Geschwindigkeit mit Verzögerung eintritt und Helmholtz genügend Zeit hat, seine Aufzeichnung durchzuführen.

Helmholtz baute im Übrigen die Apparatsteile nicht ohne fremde Hilfe, im Gegenteil: er beauftragte für die genaue Ausarbeitung aller Teile einen ortsansässigen Mechaniker. Der für die Aufzeichnung verwendete Zylinder ist „von dem hiesigen Mechanikus Herrn Rekoss, der auch die übrigen Theile des Apparats gebaut hat, äusserst genau cylindrisch aus Glas geschliffen worden.“9 Vor seiner Benutzung wird der Zylinder mittels einer Lichtflamme mit einer leichten Rußschicht versehen, in die später die zeichnende Spitze die Zuckungskurve kratzt.

Dieser Part war eigentlich der komplizierteste, ich hoffe, alles richtig verstanden zu haben. Als Kulturwissenschaftlerin ist es in diesem Fall von Vorteil, einen Elektroingenieur in der Familie zu haben, der sich gerne stundenlang über die Funktion  elektromechanischer Bauwerke unterhält, und das beim Frühstück! Danke Papa :)

Ach ja, Kommentare sind erwünscht! Ich freue mich, wenn jemand etwas zu bemerken hat.  :)

1) Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 202
2) Ebd.: S. 203
3) Vgl. Ebd.: S. 203
4) Ebd.: S. 203
5) Ebd.: S. 204
6) Ebd.: S. 204
7) Ebd.: S. 205
8) Ebd.: S. 206
9) Ebd.: S. 206

Wie bau ich mir einen Myographen, Teil 2: Die zeichnende Spitze


Die erste Herausforderung bei der Konstruktion der zeichnenden Spitze war, sie nur vertikale und keine horizontalen Bewegungen ausführen zu lassen. Helmholtz entschied sich dafür die Spitze über einen zusammengesetzten Hebel zu steuern. Die Spitze ist dabei direkt an einem senkrechten Hebel befestigt, der an der Oberseite über eine horizontal beweglichen Achse mit einem waagerechten Hebel verbunden ist. Der waagerechte Hebel ist am anderen Ende ebenfalls über eine horizontale Achse beweglich – dies gewährleistet, dass die Spitze ausschließlich vertikale Bewegungen ausführt. Die Mitte des waagerechten Hebels ist über eine Stellschraube mit einem Rahmen verbunden, der wiederum über einen Haken von dem Muskel getragen wird. „Wenn sich dieser zusammenzieht, hebt er also den [waagerechten] Hebel [...], und mit ihm die zeichnende Spitze.“1 Der Druck, den die Spitze auf den rotierenden Zylinder ausübt, kann über Gewichte, die an einem befestigten Querarm verschiebbar sind, reguliert werden. Mit dieser Befestigungsweise vermied Helmholtz größere Reibungsverluste: „Da die Berührungsflächen der reibenden Theile sehr klein ist, und sie sich nur wenig gegen einander verschieben, so ist die Reibung an den Befestigungsstellen sehr gering, und kann selbst kleiner, als die der zeichnenden Spitze werden.“2

1) Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 202
2) Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 202

Wie bau ich mir einen Myographen? - So: (Teil 1)

Zeichnung des Myographen von Hermann von Helmholtz, Kupferstich, 1852


Zwei Jahre nach der Publikation seiner Messungen mit der elektromagnetischen Methode, veröffentlichte Helmholtz seine „Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven“1. Darin berichtet er über die weiterentwickelte grafische Messmethode zur Aufzeichnung der Zuckungskurven der elektrisch gereizten Muskel. Ein Grund, die bereits erfolgreichen Versuche mit der komplizierten elektromagnetischen Messmethode erneut durchzuführen, lag für Helmholtz in der einfacheren Ausführbarkeit und vor allem größeren Anschaulichkeit der grafischen Methode.

„Außerdem lasse ich mir jetzt einen Apparat mit rotierendem Zylinder zur Kurvenzeichnung bauen, mit dem ich neben manchem anderen auch hoffe, jedermann durch einen Versuch in 5 Minuten die Tatsache der Fortpflanzungsdauer in den Nerven vor Augen legen zu können. Damit beabsichtige [ich], im nächsten Sommer an den deutschen Universitäten herumzureisen und Vorstellungen zu geben.“2

Bei dieser Aufzeichnungsmethode ist der Muskel mit einem Stift verbunden, der bei jeder Zuckung des Muskels die vertikale Erhebung auf einen rotierenden Zylinder überträgt. Er zerlegt sich in drei grundlegende Bestandteile:

„ 1. Die Verbindungsstücke des zeichnenden Stiftes mit dem Muskel.
2. Das Uhrwerk, welches den Zeichenzylinder in gleichmäßige Umdrehung versetzt.
3. Die Vorrichtung zur rechtzeitigen Auslösung des electrischen Schlages, welcher den Nerven durchfährt.“3

Der Aufzeichnungsapparat ist mit der bereits für die elektromagnetischen Messversuche verwendeten Apparatur, die den Muskel und das stromleitende Zwischenstück enthält, verbunden.

„Der Muskel wurde in demselben von Glaswänden eingeschlossenen und mit Feuchtigkeit gesättigten Raume aufgehängt, wie bei den früheren Versuchen. Sein Nerv wurde ebenfalls wieder über die vier dort befindlichen Drähte gelegt, durch welche es möglich war, bald der einen, bald der andern Nervenstelle von aussen her einen electrischen Schlag zuzusenden“4

Erst in dieser Kombination beider Apparatsteile – der Halterung für den Muskel mit der Glaskuppe und dem stromleitenden Zwischenstück zum einen und dem drehbaren Zylinder samt Zeichenstift – kann vom Myographen gesprochen werden, oder wie Helmholtz ihn zunächst auch nannte: Froschzeichenapparat. Der Begriff des Myographen oder Myographions leitet sich ab von Myo-, griechisch für Muskel, und -graph, von griechisch graphein für zeichnen, also „Muskelschreiber“. Es wird also eindeutig die aufschreibende Tätigkeit bezeichnet. Helmholtz hatte die grafische Einheit aber schon von Anfang an mitgedacht, sein Prototyp aus den ersten Versuchen besaß bereits ein Aufschreibesystem auf das er nun zurückkommt, um es für anschauliche und überzeugende Präsentationen einzusetzen.

1) Helmholtz, Hermann von (1852): Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, S. 199–216.
2) Helmholtz in einem Brief vom 17. September 1850 an Emil du Bois-Reymond, in: Kirsten, Christa (u a. Hg ). (1986): Dokumente einer Freundschaft. Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond 1846-1894. Kirsten, Christa (Hg.). Berlin. S. 106.
3) Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 200
4) Helmholtz 1852 – Messungen über Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung, S. 200f.

Mittwoch, 9. Februar 2011

Verständliche Wissenschaft sorgte im 19. Jh. für Empörung bei den Damen

Wer hätte das gedacht: du Bois-Reymonds Versuch, eine wissenschaftlichen Rede in verständlicher Form zu verfassen, stieß bei der weiblichen Hörerschaft auf Empörung. In einem Brief an Helmholtz vom 18. März 1851 schreibt er: "Gib meine Rede Deiner angenehmen Hausfrau zu lesen. Die Damen sind empört darüber gewesen, dass ich ihnen verständlich gewesen sei, was ich von ihnen dächte? Und von mir hatte man etwas Wissenschaftlicheres erwartet. [...] [Ich] werde große Mühe haben, meinen Ruf als exakter Forscher wieder zu erobern." Das gemeine Publikum ließ sich lieber in Verwunderung versetzen und wollte gar nicht verstehen. War das wirklich so? Helmholtz beobachtet diesen Trend ebenfalls und schlägt vor, dem Plebs zu geben, wonach er begehrt. "Meine Frau lässt Dich freundlich grüßen; ich habe ihr Deine Vorlesung vorgetragen, da sie aber soweit in die Physiologie eingeweiht ist, dass sie Versuchsreihen über Geschwindigkeit der Reizung in den Nerven an sich anstellen konnte, bei anderen selbst Magnetometer-Ablesungen machte etc., so hat sie sich zur Partei derjenigen geschlagen, welche behaupten, Du hättest dich zu verständlich gemacht. Dagegen höre ich, hast Du in Berlin auch viele unbedingte Bewunderinnen. Es ist unmöglich bei solchen Gelegenheiten, es allen recht zu machen, jedenfalls aber wohl dankbarer, es den Zuhörern nicht zu leicht zu machen und für den großen Haufen einige Rätsel stehen zu lassen, deren Verständnis vielleicht nur einer kleinen Zahl der Zuhörerschaft aufgeht. Für jene anderen ist es im Grunde immer besser, ihre Verwunderung als ihr Verständnis anzuregen." (Helmholtz an du Bois-Reymond in einem Brief vom 11. April 1851) Im Prinzip ist es schön, beim Publikum Verwunderung auszulösen, aber nur, um ein Interesse zu wecken. Das Interesse sollte dann aber auch befriedigt werden, und dafür ist es sinnvoll, dem Laien die Wissenschaft auf verständliche Art und Weise näher zu bringen, als ihn in seiner Verwunderung verweilen zu lassen. Bereits Aristoteles sah im Staunen den Beginn des Philosophierens [Vgl. Metaphysik, S. 22] - dieser Zustand kann also als Antrieb wirken, sich mit einem Thema intensiver zu beschäftigen.

"Pompöser" Begriff des Myographion von Helmholtz 1854 geprägt

Ich hatte in einem früheren Post die Frage gestellt, ab wann der Begriff "Myograph(ion)" verwendet wurde und wer ihn geprägt hat, zumal Helmholtz diesen Begriff in seinen Veröffentlichungen von 1850 und 1852 nicht benutzt. Nun bin ich fündig geworden (*Trommelwirbel*): In einem Brief vom 13. Juni 1854 an du Bois-Reymond setzt Helmholtz diesen darüber in Kenntnis, den sogenannten "Froschzeichenapparat" zukünftig "Myographion" zu nennen: "Für das physiologische Institut in Gießen wird jetzt hier ein Froschzeichenapparat oder, wie ich ihn künftig pompös benennen werde, ein Myographion gebaut [...]." Dann wäre das also geklärt.  

Mittwoch, 2. Februar 2011

Komplizierte Messmethode lässt meinen Kopf rauchen

Helmholtz verwendet für seine ersten Versuche (Helmholtz 1850) ein extrem kompliziertes Messverfahren (hatte ich das schon erwähnt?). Er misst dazu die Veränderung der Schwingungen des Magneten, der in einem Galvanometer hängt. Wenn nun ein Strom in den Muskel oder den Nerven induziert wird, verändert sich der Ausschlag des schwingenden Magneten. Über ein Spiegelchen und mittels Fernrohr kann Helmholtz bzw. seine Frau Olga (siehe früherer Blogeintrag) - vereinfacht ausgedrückt -  die Werte ablesen und mittels einer Formel die Zeit berechnen, die der Reiz brauchte, um eine Zuckung auszulösen. Die Messwerte mittels Spiegel und Fernrohr abzulesen stammt von Carl Friedrich Gauß (1777) und Wilhelm Eduard Weber (1804-1891), die das erste Galvanometer gebaut haben. Kleine Anekdote: Während ihrer ersten Versuche mit dem Galvanometer kamen die beiden auf die Idee zu testen, wie weit die elektrischen Leitfähigkeit in einem Draht reichen würden. "Sie spannten einen Draht quer durch ihre ganze Stadt, Herr Gauß befand sich an einem Ende und verband die Drähte mit einer Batterie [...] und Herr Weber beobachtete, wie sich die Nadel des Galvanometers bewegte. Sie verfügten über ein Mittel, Signale über große Entfernungen zu übertragen - es war der Anfang der Telegraphie!" [http://bit.ly/dW4ngu] Halleluja! Ähnlich wie bei Gauß' und Webers Versuch mit Telegraphendrähten stellte Helmholtz sich die Nervenleitung vor [http://bit.ly/gmyrgR]. Als nächstes werde ich mir die anschaulichere grafische Methode genauer ansehen, die Helmholtz 1852 ausführlich beschreibt.